Mit Katharina Keil beim Symposium „Vollzug in freien Formen“
Am 11.September 2013 führte der Rechtsausschuss des Landtags Nordrhein-Westfalen ein öffentliches Symposium zum „Vollzug in freien Formen“ durch. Auf Vorschlag der Fraktionen wurden einige Sachverständige eingeladen, um mit ihrem Fachwissen für ein dreistündiges Fachgespräch zur Verfügung zu stehen.
Katharina Keil hat neben ihrem Jurastudium bei mir ein Praktikum gemacht und an dem Symposium teilgenommen. Ihr Fazit: ein erfolgreiches Projekt. Im Gespräch erklärt sie, warum.
Katharina, aus welchem Grund beschäftigt sich der Landtag mit dem Thema? Grundlage dieses Symposiums ist der Abschlussbericht der Enquetekommission „Prävention“ aus der 14. Wahlperiode des Landtags. Die damalige Enquetekommission hat sich mit den Ursachen von Gewalt und Kriminalität im Kindes-und Jugendalter beschäftigt. Sie hat sich für 35 Handlungsempfehlungen ausgesprochen, um Gewalt und Kriminalität zu bekämpfen. Eine dieser Möglichkeiten ist der Vollzug in freien Formen.
Und was genau ist unter „Vollzug in freien Formen“ zu verstehen? Bei dem Vollzug in freien Formen handelt es sich um einen Jugendstrafvollzug. Es stellt eine Alternative zum herkömmlichen Strafvollzug dar. Abseits von Gefängnismauern und den klaren Hierarchien unter Gefangenen sollen die Jugendlichen erfolgreicher soziale Verantwortung lernen und erkennen, dass ein Leben ohne Straftaten möglich und auch erfüllend ist. Jugendliche können der Gewalt aus eigener Kraft entfliehen.
Wo gibt es das bereits in Nordrhein-Westfalen? Mittlerweile ist mit dem Raphaelshaus in Dormagen ein Modellprojekt zum „Vollzug in freien Formen“ entstanden. Als Vorbild diente das Seehaus Leonberg in der Nähe von Stuttgart. Es wurden noch einige andere Modellprojekte, unter anderem auch eines aus Brandenburg, vorgestellt, welche nach ähnlichen Prinzipien bei den Jugendlichen vorgehen.
Für wen eignet sich diese Form des Vollzugs und wer wird da aufgenommen? Diese Projekte richten sich an Intensivstäter bis in der Regel 18 Jahre. Diese Jugendlichen sollten eine Reststrafe von 12-24 Monaten haben. Diese Projekte werden von Mitarbeitern in den JVA’s vorgestellt und die Jugendlichen können sich aus selbstgesetzten Motiven für eines dieser Projekte bewerben.
Wie sieht der Alltag im offenen Vollzug aus? In jeder dieser Einrichtungen gibt es einen sehr strikten Tagesablauf, welcher um 6 Uhr morgens mit Frühsport beginnt. Die Jugendlichen erfahren zum ersten Mal einen geregelten Tagesablauf und erlernen Strukturen. Die Jugendlichen werden so gefordert und auf ein Leben außerhalb der Maßnahme und dem Strafvollzug vorbereitet. Schule, Arbeit, Sport, Musik und andere Beschäftigungen gehören zum täglichen Programm. Die Jugendlichen werden in den Bereichen gefördert und erzielen Erfolge. Sie erfahren oftmals zum ersten Mal positive Aufmerksamkeit durch die Gesellschaft. Die Jugendlichen lernen ebenfalls, sinnvoll mit ihrer Freizeit umzugehen. Sie üben Fairness und Ausdauer. Durch erlebnispädagogische Aktivitäten erfahren sie ihre eigenen Grenzen und entdecken Stärken und Schwächen. Sie reifen in ihrer Persönlichkeit und erlernen soziale Kompetenzen, die vielen bis dahin nicht vermittelt wurden.
Können die Jugendlichen sich auf spätere Berufstätigkeit vorbereiten? Die Jugendlichen absolvieren ihren Schulabschluss und können ebenfalls eine Berufsausbildung beginnen. Die Einrichtungen sind mit Werkstätten ausgerichtet, wodurch die Jugendlichen externe Aufträge erledigen und sich mit der Berufspraxis der freien Wirtschaft auseinandersetzen. Eine Mitarbeiterfamilie wohnt mit jeweils 5-7 Jugendlichen und ihren eigenen Kindern familienähnlich zusammen. Familienleben ist für viele der Jugendliche keine Selbstverständlichkeit. Sie erlernen so gegenseitige Fürsorge und Verantwortung. Die Jugendlichen lernen für andere da zu sein und zu helfen und auch Hilfe von anderen anzunehmen.
Was bedeutet das für die Einstellung der Jugendlichen zur Umwelt? Die Mitarbeiter vermitteln den Jugendlichen Werte und Normen. Neben christlichen Normen und Werte werden eigentlich selbstverständliche Tugenden wie Toleranz, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Fleiß, Ehrgeiz, Höflichkeit, Ordnung, Pflichtbewusstsein und Disziplin praktiziert und geübt.
Was ist unter „Wiedergutmachung“ zu verstehen? Das Prinzip der Wiedergutmachung besagt, dass die Jugendlichen den Schaden, den sie in der Gesellschaft angerichtet haben, durch gemeinnützige Arbeit und Dienst am Nächsten symbolisch auszugleichen haben.
Durch Opfer-Täter-Gespräche sollen die Jugendlichen mit den Erfahrungen der Opfer konfrontiert werden. Es soll auf beiden Seiten die Möglichkeit geben, Erlebtes wieder aufzuarbeiten und mit der Vergangenheit abzuschließen. Die Jugendlichen sollen sich in die Opfer hineinversetzen. Hier kann auf diese Weise echtes Mitgefühl der Täter für ihre Opfer entstehen.
Und nach dem Aufenthalt dort? Auch nach dem Aufenthalt in solch einer Einrichtung werden die Jugendlichen weiterhin von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern begleitet. Dies geschieht in vielen Fällen durch die Aufnahme in Familien und Wohngemeinschaften. Die Jugendlichen werden weiter dabei unterstützt, Herausforderungen zu bewältigen.
Was hältst Du von dem „Vollzug in freien Formen“? Abschließend kann man sagen, dass es trotz vieler Kritik ein sehr erfolgreiches Projekt ist. Es wird auf die individuellen Defizite der Jugendlichen eingegangen und die eigentlichen psychischen Motive, welche die Jugendlichen zu Straftaten verleitet haben, werden wahrgenommen und möglichst durch Resozialisierung bekämpft. Einen Strafvollzug empfinden viele Jugendliche als weitere Zurückweisung durch die Gesellschaft und so ist es ihnen oft nach Absitzen ihrer Haftstrafe aufgrund mangelnder sozialer Kompetenzen und eines mangelnden gefestigten sozialen Umfelds nicht möglich, der Gewalt und Kriminalität
aus eigener Kraft zu entkommen. Man kann durch das Abbauen frühkindlicher Defizite verhindern, dass aus den jugendlichen Intensivstraftätern erwachsene Straftäter werden. Ich finde, dass das Raphaelshaus in Dormagen, das Seehaus Leonberg und weitere Einrichtungen mit einem guten Beispiel vorausgegangen sind und dass noch einige mehr Einrichtungen den klassischen Strafvollzug in Nordrhein-Westfalen und am liebsten bundesweit ersetzen sollten. Die Jugendlichen werden als bedürftige Menschen wahrgenommen und nicht lediglich als Straftäter. Es zählt der Mensch hinter der gewalttätigen und kriminellen Fassade. Und gerade das ist es, was vielen der Jugendlichen bisher in ihrem Leben gefehlt hat. In Deutschland hat jeder Straftäter das Recht auf Resozialisierung und auch, wenn man vom klassischen Vollzug hierbei abweicht, sollte am Vollzug in freien Formen festgehalten werden. Die Projekte haben sich schließlich in den letzten Jahren bewährt.
- Hier gibt es noch mehr Informationen zum Raphaelshaus in Dormagen.